Retention ist das neue Recruiting: Warum Mitarbeiterbindung 2025 zum strategischen Erfolgsfaktor wird – und was wirklich zählt
- merheim3
- 3. Apr.
- 6 Min. Lesezeit
Es ist Montagmorgen. Stefans Woche beginnt mit einer beunruhigenden Nachricht: Zwei seiner besten Entwickler haben gleichzeitig gekündigt. „Wir haben ein besseres Angebot erhalten", lautet die Begründung der beiden. Für Stefan, Teamleiter in einem mittelständischen IT-Unternehmen, ist das bereits die fünfte Kündigung in diesem Quartal. Die Fluktuation liegt inzwischen bei alarmierenden 18 Prozent. Das ist schon eher die obere Grenze im Branchendurchschnitt.
Je nach Branche, Unternehmensgröße und Gehaltsstrukturen kostet eine unbesetzte Stelle für bestimmte Positionen in Deutschland mehr Geld, als vielen bewusst ist. Laut einer StepStone-Studie aus 2023, im Handelsblatt veröffentlicht, kommen in manchen Fällen bis zu 130.000 Euro an direkten und indirekten Kosten zustande.Das dürfte – im Sinne der Unternehmensgröße und der zu besetzenden Position – zwar schon der obere Rand der Kostenspanne sein. Verhältnismäßig betrachtet sollte aber jedes Unternehmen – egal ob klein, mittelständisch oder groß – die jeweiligen Kosten im Blick haben.
Zwei Unternehmen – zwei Realitäten
Nur wenige Kilometer entfernt steht Anna vor ähnlichen Herausforderungen. Auch ihr Softwareunternehmen kämpft mit dem Fachkräftemangel. Doch die Fluktuation liegt hier nur bei acht Prozent. Als ein Headhunter vergangene Woche versuchte, Thomas – ihren Senior Developer – mit einem deutlich höheren Gehalt abzuwerben, lehnte dieser ab.
Das Bemerkenswerte daran ist die Tatsache, dass ihr Thomas überhaupt von dem Angebot erzählte. Das ist längst nicht selbstverständlich. Für Anna ist es ein Zeichen des Vertrauens, das tief in der Unternehmenskultur verankert ist. Und das nicht per Zufall, sondern aufgrund langfristiger, strategischer Entscheidungen.
„Das Gesamtpaket stimmt hier einfach“, erklärte Thomas offen. „Nicht nur finanziell, sondern auch, was Entwicklungsmöglichkeiten, die Flexibilität, die Stimmung und die Zusammenarbeit im Team betrifft. Ich fühle mich hier wertgeschätzt und gesehen." Diese Transparenz und das gegenseitige Vertrauen sind fundamentale Bausteine für die starke Mitarbeiterbindung in Annas Team.
Zwei Unternehmen, zwei Realitäten – und ein entscheidender Unterschied: Während Stefans Firma primär auf Recruiting setzt, hat Anna in ihrem Unternehmen Mitarbeiterbindung zur Priorität gemacht. In Zeiten, in denen qualifizierte Fachkräfte rar sind und die Kosten für Neueinstellungen steigen, ist Retention inzwischen ein entscheidender Erfolgsfaktor und Wettbewerbsvorteil.
Die echten Kosten von Fluktuation
Anfang 2025 liegt die Vakanzzeit von Arbeitsstellen nach Anforderungsniveau in Deutschland laut Bundesagentur für Arbeit im Durchschnitt bei 162 Tagen. Für Fachkräfte sind es stolze 175 Tage. In einigen Branchen ist sie deutlich höher. (Quelle: Bundesagentur für Arbeit/Statista 2025; Abbildung unten)

Bei der Betrachtung von Vakanzzeiten je Branche zeigt sich in bestimmten Sektoren eine besonders dramatische Situation. So beträgt die durchschnittliche Vakanzzeit im Baugewerbe 274 Tage. In der Land- und Forstwirtschaft 216 Tage. Im Bereich Informatik- und andere IKT-Berufe, brauchte es 2024 im Durchschnitt 132 Tage, bis eine Position neu besetzt war. (Quelle: https://statistik.arbeitsagentur.de/DE/Navigation/Statistiken/Interaktive-Statistiken/Berufe-auf-einen-Blick/Berufe-auf-einen-Blick-Anwendung-Nav.html;jsessionid=3FC4204500948B2C3CB26B87FDAC7675?Thema%3Dalo-stea%26DR_Bereich%3Dinsg%26DR_Region%3Dd%26DR_Berufe%3D43)

Abgesehen von der benötigen Anzahl der Tage kommen weitere Faktoren hinzu, die interne wie externe Kosten nach oben treiben. Dazu gehören wiederum sowohl indirekte als auch direkte Kosten.
Mehrbelastung des Teams
Verlust von Wissen und Erfahrung
Stellenanzeigenschaltung auf verschiedenen Jobportalen
(potenziell) Premiumpakete bei Jobportalen für bessere Sichtbarkeit
Social-Media-Recruiting-Kampagnen
Active-Sourcing durch interne Recruiter
Honorare für externe Personalvermittler
Executive Search Gebühren (je nach Position)
Sichtung / Auswertung Bewerbungen
Assessment-Center oder strukturierte Auswahlverfahren
Zeitaufwand für Bewerbungsgespräche
Reisekosten für Bewerber
Einstellungstests und Eignungsdiagnostik
Vertragsverhandlungen und -gestaltung
Vorbereitung des Arbeitsplatzes (Hardware, Software, Büroausstattung)
Onboarding
Einarbeitungsschulungen und Trainings
Produktivitätsverlust während der Einarbeitungszeit
Mentoring- oder Buddy-Programme
Regelmäßige Feedbackgespräche in der Probezeit
(potenziell) zusätzliche fachliche Qualifizierungen
Die konkreten Kosten variieren je nach Unternehmen. Und natürlich sollten auch vermeintliche „Kleinigkeiten“, wie etwa die Erstellung von Zeugnissen, in die Berechnung einfließen.
Abschließend ist es entscheidend zu bedenken, dass die hier aufgeführten Kosten lediglich für eine einzelne Neubesetzung anfallen. In der Realität müssen Unternehmen allerdings oft mehrere Positionen gleichzeitig besetzen. Das vervielfacht die finanziellen und organisatorischen Belastungen des Arbeitgebers. Ein Umstand, der im strategischen Personalmanagement häufig unterschätzt wird.
Exkurs: Beispiele für „normale“ Fluktuationsraten
Das Thema Mitarbeiterbindung ist eng mit der Fluktuationsrate von Unternehmen verknüpft. Grundsätzlich ist Fluktuation nicht negativ, denn ein gesundes Maß an Fluktuation kann auch positive Effekte auf die Funktionalität von Unternehmen haben. So bringen neue Mitarbeitende frische Sichtweisen und Impulse ein. Sie können die Kreativität im Team stärken und Schwachstellen im Unternehmen aufdecken. Welche Fluktuation in welchen Wirtschaftszweigen „normal“ ist, lässt sich anhand von Daten der Bundesagentur für Arbeit nachvollziehen.
Im Folgenden zeigen wir einige Beispiele mit Daten aus 2022:
Land- und Forstwirtschaft, Fischerei: Die Fluktuation lag hier bei 74,7 % im Jahr 2021 und 69,5 % im Jahr 2022. Solch hohe Werte sind in dieser Branche typisch und durch saisonale Arbeitsverhältnisse bedingt.
Gastgewerbe: Hier erreichte die Fluktuationsrate 62,3 % im Jahr 2021.Häufige Wechsel gehören in dieser Branche aufgrund saisonaler Schwankungen und anspruchsvoller Arbeitsbedingungen zum Alltag.
Information und Kommunikation: In dieser Branche betrug die Fluktuation 58,0 % im Jahr 2021. Die hohe Nachfrage nach IT-Fachkräften und intensiver Wettbewerb treiben die Wechselbereitschaft nach oben.
Öffentliche Verwaltung: Hier zeigt sich mit 13,8 % im Jahr 2021 eine deutlich niedrigere Fluktuation als in anderen Sektoren. Stabilität und langfristige Verträge tragen in diesem Bereich zur Bindung der Mitarbeitenden bei.
-Exkursende-
Was Mitarbeitende 2025 wirklich bindet
Diverse Studien zeigen: Die Prioritäten haben sich verschoben. Während Gehalt und Benefits nach wie vor wichtig sind, gewinnen andere Faktoren zunehmend an Bedeutung:
Sinnstiftende Arbeit und Purpose: Mitarbeitende wollen wissen, dass ihre Arbeit einen Unterschied macht. Unternehmen, die eine klare Vision und Werte vermitteln, haben deutlich höhere Bindungsraten.
Führungsqualität: Empathische Führung und regelmäßiges Feedback sind entscheidend für die Bindung.
Entwicklungsmöglichkeiten: Karriereperspektiven und kontinuierliche Weiterbildung sind entscheidende Faktoren. Laut Gallup-Engagement-Index fühlen sich 70 Prozent der Mitarbeitenden stärker gebunden, wenn sie Entwicklungsmöglichkeiten sehen.
Flexible Arbeitsmodelle: Homeoffice ist längst Standard. Doch 2025 geht es um echte Flexibilität: selbstbestimmte Arbeitszeiten, Workation-Möglichkeiten und hybride Modelle, die individuell anpassbar sind.
Zugehörigkeitsgefühl und Wertschätzung: Mitarbeitende möchten sich als Teil eines Teams fühlen und für ihre Leistungen anerkannt werden.
Best Practice: Wie Annas Unternehmen Mitarbeiterbindung lebt
Zurück zu Anna und ihrem Erfolgsrezept. Ihr Unternehmen hat Retention nicht nur als HR-Thema, sondern als unternehmensweite Strategie etabliert. Im Laufe der Zeit führte sie etliche Methoden und Ansätze ein, die die Mitarbeiterzufriedenheit steigerten und die Fluktuation deutlich unter den Branchendurchschnitt senkten.
Folgende Maßnahmen bilden das Fundament ihrer erfolgreichen Retention-Strategie:
Regelmäßige Puls-Checks statt jährlicher Mitarbeiterbefragungen: Kurze, häufige Umfragen geben Einblick in die Stimmung und ermöglichen schnelle Reaktionen.
Individuelle Entwicklungspläne: Jeder Mitarbeitende hat einen persönlichen Entwicklungsplan, der regelmäßig besprochen und angepasst wird.
Flexibilität als Standard: Flexible Arbeitszeiten und -orte sind selbstverständlich, solange die Ergebnisse stimmen.
Transparente Kommunikation: Regelmäßige Town Halls und offene Kommunikation über Unternehmensziele und -herausforderungen schaffen Vertrauen.
Wertschätzungskultur: Erfolge werden gefeiert, Feedback ist Teil der Unternehmenskultur.
Interne Jobbörse und Karrierepfade: Anna hat ein robustes internes Stellenbesetzungssystem implementiert. Mitarbeitende, die nach neuen Herausforderungen suchen, können sich auf interne Positionen bewerben, bevor diese extern ausgeschrieben werden. So bleiben wertvolle Talente im Unternehmen, auch wenn sie in ihrer aktuellen Position nicht mehr glücklich sind.
Mentoring- und Buddy-Programm: Erfahrene Mitarbeitende werden mit Neueinsteigern oder Kollegen aus anderen Abteilungen gepaart. Dies fördert den Wissensaustausch, stärkt das Netzwerk innerhalb des Unternehmens und schafft persönliche Bindungen über Abteilungsgrenzen hinweg.
Sabbatical-Angebote und Auszeiten: Nach einer bestimmten Betriebszugehörigkeit können Mitarbeitende bezahlte oder teilweise bezahlte Auszeiten nehmen, um sich weiterzubilden, zu reisen oder einfach zu regenerieren – mit der Sicherheit, danach zurückkehren zu können.
Das Ergebnis: Eine Fluktuation deutlich unter dem Branchendurchschnitt und eine starke Arbeitgebermarke, die auch bei der Rekrutierung hilft.
Die Verbindung zur Arbeitgebermarke
Mitarbeiterbindung und Employer Branding sind untrennbar miteinander verbunden. Eine authentische Arbeitgebermarke beginnt im Inneren des Unternehmens. Wenn das Versprechen nach außen nicht mit der internen Realität übereinstimmt, werden Mitarbeitende schnell zu kritischen Botschaftern – online wie offline.
Stefan hat das schmerzlich erfahren müssen. Auf Bewertungsplattformen wie kununu und Glassdoor häufen sich kritische Stimmen ehemaliger Mitarbeitender. Als Folge steigt nicht nur die Fluktuation. Auch die Rekrutierung wird schwieriger und teurer.
Anna hingegen profitiert von einem positiven Kreislauf, weil ihre zufriedenen Mitarbeitenden authentische Markenbotschafter sind. Und die ziehen wiederum neue Talente an. Ihre Mitarbeitenden teilen ihre positiven Erfahrungen in sozialen Netzwerken wie LinkedIn oder auf Bewertungsplattformen und empfehlen das Unternehmen aktiv weiter.
Fazit: Retention als strategischer Erfolgsfaktor
Die Zeiten, in denen Unternehmen Fluktuation als unvermeidliches Übel betrachteten, sind vorbei. In einer Arbeitswelt, die von Fachkräftemangel und langen Vakanzzeiten geprägt ist, wird Mitarbeiterbindung zum strategischen Erfolgsfaktor.
Während Stefan noch immer nach der perfekten Recruiting-Strategie sucht, hat Anna erkannt: Wer in die Bindung bestehender Mitarbeiter investiert, spart nicht nur Kosten, sondern stärkt auch die Arbeitgebermarke von innen heraus. Denn zufriedene Mitarbeitende sind die glaubwürdigsten Botschafter sowie der Schlüssel zu nachhaltigem Unternehmenserfolg in herausfordernden Zeiten.
Die Frage ist nicht mehr, ob sich Unternehmen Retention leisten können, sondern ob sie es sich leisten können, darauf zu verzichten.
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